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Bauen in lärmbelasteten Gebieten

Viel Verkehr, viel Lärm. Die Realisierung von Neubauten in städtischen Gebieten ist mit Blick auf die lärmschutzrechtlichen Vorschriften anspruchsvoll. Wird dem Lärmschutz nicht bereits bei Projektbeginn die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt, ist die Gefahr gross,
dass die Baubewilligung aus lärmschutzrechtlichen Gründen nicht erteilt werden kann.

Als Grundsatz gilt, dass der Bau von Gebäuden, die dem längeren Aufenthalt von Personen dienen, nur möglich ist, wenn die Immissionsgrenzwerte (IGW) nicht überschritten werden (Art. 22 Abs. 1 des Umweltschutzgesetzes [USG]). Liegt eine Überschreitung der IGW vor, können solche Gebäude nur ausnahmsweise bewilligt werden, wenn die Räume zweckmässig angeordnet sind und die allenfalls notwendigen zusätzlichen Schallschutzmassnahmen getroffen werden (Art. 22 Abs. 2 USG). Die Lärmschutz-Verordnung präzisiert diese Regelung dahingehend, dass eine Baubewilligung nur erteilt wird, wenn die IGW a) durch die Anordnung der lärmempfindlichen Räume auf der dem Lärm abgewandten Seite des Gebäudes oder b) durch bauliche oder gestalterische Massnahmen, die das Gebäude gegen Lärm abschirmen, eingehalten werden können (Art. 31 Abs. 1 LSV).
Ob die IGW überschritten sind, ist anhand der Lärmimmissionen in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume zu ermitteln (Art. 39 Abs. 1 LSV). Als lärmempfindliche Räume gelten Räume in Wohnungen (ausgenommen Küchen ohne Wohnanteil, Sanitär- und Abstellräume) sowie Räume in Betrieben, in denen sich Personen regelmässig während längerer Zeit aufhalten (ausgenommen Räume mit erheblichem Betriebslärm) (Art. 2 Abs. 6 LSV).

Die „Lüftungsfensterpraxis“
Diesbezüglich stellt sich die Frage, wie bzw. wo die Lärmimmissionen zu ermitteln sind. Nach der früheren von rund der Hälfte aller Kantone angewandten „Lüftungsfensterpraxis“ genügte dabei, wenn die Einhaltung der IGW an demjenigen Fenster des lärmempfindlichen Raumes gemessen wurde, welches am wenigsten dem Lärm ausgesetzt ist. Mithin reichte es aus, wenn bei jedem lärmempfindlichen Raum ein Fenster geöffnet werden konnte, ohne dass im jeweiligen Raum eine über der Grenze zur Schädlichkeit oder Lästigkeit liegende Belästigung eintrat.
In seinem Urteil vom 16.März 2016 (1C_139/2015, 1C_140/2015 und 1C_141/2015) erklärte das Bundesgericht diese „Lüftungsfensterpraxis“ als bundesrechtswidrig. Es erwog, dass die Praxis, für die Baubewilligung genügen zu lassen, wenn die IGW am ruhigsten Fenster jedes lärmempfindlichen Raums eingehalten sind, zu einer unzulässigen Aushöhlung des vom Gesetzgeber bezweckten Gesundheitsschutzes führe. Dies mit der Begründung, dass sich bei Anwendung der „Lüftungsfensterpraxis“ die Gestaltung des Bauvorhabens darauf beschränken könnte, pro Raum das „lärmabgewandteste“ Lüftungsfenster abzuschirmen. Weitere Massnahmen zur Lärmbeschränkung würden diesfalls aus Kostengründen nicht ergriffen und sinke damit der Druck auf das Gemeinwesen, Massnahmen zur Lärmbekämpfung an der Quelle anzuordnen. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die IGW grundsätzlich an allen Fenstern von lärmempfindlichen Räumen eingehalten werden müssen. 

Lärmschutzrechtliche Ausnahmebewilligung
Dabei erkannte das Bundesgericht, dass die Ablehnung der „Lüftungsfensterpraxis“ zu Zielkonflikten zwischen dem Lärmschutz und der raumplanerisch gebotenen Siedlungsverdichtung führen kann. Es räumte ein, dass die Erteilung von Ausnahmebewilligungen durch die zuständige kantonale Behörde in Betracht falle, falls alle zumutbaren Lärmschutzmassnahmen ergriffen worden seien und das Bauprojekt der qualitativ angemessenen Siedlungsentwicklung und -verdichtung nach innen diene.
Doch kommt die Erteilung einer lärmschutzrechtlichen Ausnahmebewilligung nur als Ultima Ratio in Betracht. Sie bedingt, wie erwähnt, dass die lärmempfindlichen Räume zweckmässig angeordnet werden und sämtliche verhältnismässigen (baulichen und gestalterischen) Massnahmen nach Art. 31 Abs. 1 LSV ausgeschöpft worden sind (Art. 22 Abs. 2 USG). Es ist an der Bauherrschaft, (im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens) den Nachweis zu erbringen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Darüber hinaus setzt die Ausnahmebewilligung voraus, dass an der Errichtung des Gebäudes ein überwiegendes Interesse besteht und die kantonale Behörde zustimmt (Art. 31 Abs. 2 LSV). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann das Interesse an der Errichtung des Gebäudes trotz überschrittenem IGW überwiegen, wenn das Bauvorhaben in weitgehend überbautem Gebiet geplant ist, ein akuter Bedarf an Wohnraum besteht, die Immissionsgrenzwerte nicht erheblich überschritten sind und ein angemessener Wohnkomfort sichergestellt ist.

Wesentliche Überschreitung der IGW
Die Frage, wann die IGW als „erheblich überschritten“ gelten, ist immer wieder Gegenstand von gerichtlichen Verfahren. Das Bundesgericht erachtete in einem jüngeren Entscheid (1C_106/2018 vom 2. April 2019) die tagsüber an einem der vier Fenster um 4 dB(A) überschrittene IGW in einer der Empfindlichkeitsstufe (ES) II zugewiesenen Wohnzone als „eindeutig wahrnehmbar“. Doch gibt es auch bundesgerichtliche Entscheide, in denen Ausnahmebewilligungen trotz höheren IGW-Überschreitungen geschützt wurden.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich bezeichnete in einem Urteil aus dem Jahr 2020 (VB.2019.00394) die Überschreitung der nächtlichen IGW in einer der ES III zugewiesenen fünfgeschossigen Wohnzone (um bis zu 5 dB(A) bei 99 Wohnungen als „immens“. Ähnlich entschied das Baurekursgericht des Kantons Zürich (BRGE I Nrn. 0066-0067/2020) bei einem Bauvorhaben, bei welchem in 103 von 134 Wohnungen die IGW mit bis zu 8.2 dB(A) in der Nacht und bis zu 4 dB(A) tagsüber überschritten waren.

Ausblick: Revision des Umweltschutzgesetzes
Der Bundesrat verabschiedete im Dezember 2022 zuhanden des Parlaments einen Gesetzesentwurf, der unter anderem das Bauen in lärmbelasteten Gebieten erleichtern soll. Dies mit dem Ziel, eine „qualitätsvolle Siedlungsentwicklung nach innen“ erreichen zu können. Im März 2024 hat sich der Nationalrat mit den geplanten Änderungen des Umweltschutzgesetzes befasst und einem Formulierungsvorschlag der vorberatenden Ständeratskommission zugestimmt, welche als „erweiterte Lüftungsfensterpraxis“ bezeichnet wird: Konkret sollen in der Schweiz künftig Baubewilligungen für Wohnungen in Gebieten mit überschrittenen IGW zulässig sein, wenn a) bei jeder Wohneinheit mindestens ein lärmempfindlicher Raum über ein Fenster verfügt, bei dem die Lärmgrenzwerte eingehalten sind und b) bei den übrigen Räumen eine kontrollierte Wohnraumlüftung installiert ist oder ein privat nutzbarer Aussenraum zur Verfügung steht, bei dem die Lärmgrenzwerte eingehalten sind. Alternativ sollen Baubewilligungen erteilt werden können, wenn bei jeder Wohneinheit mindestens die Hälfte der lärmempfindlichen Räume über ein Fenster verfügt (Singular), bei dem die IGW eingehalten sind sowie der Schallschutz angemessen und wirtschaftlich verhältnismässig verschärft wird.
Damit hat sich der Nationalrat dazu entschieden, weniger weit zu gehen als der Ständerat, welcher vorsah, dass der Wohnungsbau auch dann möglich sein soll, wenn die lärmempfindlichen Räume einer Wohnung lediglich eine kontrollierte Wohnraumlüftung erhielten. Im Rahmen der Differenzbereinigung hat die ständerätliche Kommission an ihrem Beschluss festgehalten: Wenn eine kontrollierte Wohnraumlüftung installiert werde und die Fenster hauptsächlich eine Beleuchtungsfunktion aufweisen, sollten keine Lärmgrenzwerte bei offenem Fenster eingehalten werden müssen.
Es ist also noch offen, ob bzw. inwieweit die „erweiterte Lüftungspraxis“ Eingang in die revidierte Umweltschutzgesetzgebung finden wird. Zudem wird sich zeigen, ob sie dazu beitragen kann, einerseits dem Gesundheitsschutz genügend Rechnung zu tragen und andererseits den raumplanerischen Zielen der Siedlungsentwicklung nach innen gerecht zu werden.

Regula Fellner ist Fachanwältin SAV Bau- und Immobilienrecht und als Senior Associate bei PMP Rechtsanwälte AG beratend und prozessierend tätig. Daneben referiert und berichtet sie in ihrem Blog regelmässig über aktuelle Themen aus dem Bau-
und Immobilienrecht.

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